Schluchtern (Leingarten)
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Gedenkstein in Schluchtern

49.149012, 9.104741

Deportation

In der 2010 veröffentlichten „Geschichte der Juden in Schluchtern“ beschreibt der Autor Norbert Geiss den Ablauf der Deportation in Schluchtern in eindrücklich Worten: „Im Dorf verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer und rasch versammelten sich auf der dem Rathaus gegenüberliegenden Straßenseite - vor der Gaststätte ‚Rose‘ - einige Zuschauer, die später von den Vorgängen berichten können. Zwei jüdische Frauen, Zilli Kirchhausen und ihre Mutter Sara, mühten sich, ein voll beladenes Handleiterwägelchen die Steigung von der jetzigem Badener Straße zur heutigen Eppinger Straße hochzuziehen. Der Schluchterner Emil Ficker nahm ihnen die Deichsel aus der Hand und zog den Wagen die Steigung hinauf und über die Straße zum Lkw. Hilfsbereitschaft gegenüber Juden konnte damals leicht dazu führen, als ‚Judenknecht‘ abqualifiziert zu werden und tatsächlich rief ein Mann aus dem Kreis der Zuschauer, indem er auf den Lkw deutete: ‚Am besten wir laden dich gleich mit drauf.‘ [...] Auf der Straße merkte er [Ludwig Vollweiler], dass er seine Brille vergessen hatte, aber für eine Umkehr war es bereits zu spät. So packte er die Deichsel des Leiterwägelchens, die auf der anderen Seite bereits die siebenjährige älteste Tochter der [‚arischen‘ Nachbars-] Familie Friederich ergriffen hatte. Nebeneinander zogen sie das Gefährt zum Rathaus. Dort warteten bereits die übrigen Schluchterner Juden. Neben sich hatte Taschen, Koffer und Rucksäcke mit jenen Sachen stehen, die für eine Reise unbestimmter Dauer zu einem unbekannten Ziel nützlich sein können: Kleidungsstücke, Verpflegung, einige Erinnerungsgegenstände. Ludwig Vollweiler soll noch darum gebeten haben, dableiben und ‚schaffe‘ zu dürfen. Doch er und die anderen elf wurden auf die Ladefläche des LKW getrieben, ‚wie die Tiere‘, sagt eine Augenzeugin. Schnell sollte es gehen. Als die 86-jährige Karoline Kirchhausen die hohe Ladefläche nicht ersteigen kann, wurde sie von Männerfäusten gepackt. ‚Wie einen Sack Kartoffel hat man sie hinauf geschmissen.‘ Als eine Zuschauerin empört aufbegehrte, wurde sie von einer Nebenstehenden gewarnt: ‚Sei vorsichtig und halt den Mund!‘. Einige Mädchen hatten an diesem Tag vorzeitig Unterrichtsschluss und sahen schon beim Verlassen der Schule an der Bergstraße den LKW vor dem Rathaus und die zahlreichen Menschen. Auf dem Weg dorthin sprach sie eine Frau an‘ „So Mädle, kommt mal her, wir singen jetzt alle: Nun danket alle Gott.‘ Auf das erstaunte Warum bekamen sie zur Antwort: ‚Weil die Juden jetzt fortkommen.‘“ 

Von den zwölf Deportierten aus Schluchtern wurden acht im August 1942 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Auguste Bauernfeind ist am 14. Januar 1942 in Gurs den Strapazen der Lagerhaft erlegen, Karolina Kirchhausen verstarb am 12. Dezember 1942 im Lager Noé.

Jüdische Ortsgeschichte

Die bis 1945 von Württemberg umschlossene Exklave gehörte bis 1806 zur Kurpfalz und danach bis 1945 zu Baden. Die ersten jüdischen Familien waren kurz nach dem Dreißigjährigen dorthin gezogen. 1882 erreichte die jüdische Gemeinde mit 99 Seelen ihre höchste Mitgliederzahl. In diesem Jahr gründete sie ihren Friedhof, davor hatte sie ihre Toten in Waibstadt und Heinsheim begraben. Bis zur Errichtung ihrer Synagoge um 1914 in der heutigen Brunnengasse versammelte sich die Schluchterner Judenschaft zur Feier ihrer Gottesdienste in einem Betsaal in der Brunnengasse. Während des Novemberpogroms 1938 demolierten auswärtige SA-Männer das Synagogengebäude. 1939 musste die jüdische Gemeinde es an einen Landwirt verkaufen (1966 wurde es abgerissen).

Zeugnisse jüdischen Lebens
Friedhof

Der 1882 angelegte jüdische Friedhof an der Kesbergstraße umfasst etwa 60 Gräber.

Quellen
Angerbauer, Wolfram / Frank, Hans Georg: Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn, Heilbronn 1986, S. 351-362
Geiss, Norbert: Geschichte der Juden in Schluchtern. Ein Gedenkbuch für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung, Leingarten 2010